Ein Konzert für die Sinne

Hätte mich jemand in den letzten Wochen oder gar letzten Tagen gefragt, ob ich am vierten Segeltag unseres Törns 76 Meilen, also rund 16 Stunden, inklusive allererster kompletter Nachtfahrt erleben möchte, hätte ich eher Nein gesagt. Übernachtsegeln hatte ich kaum vor der Biskaya für notwendig erachtet – aber da steckte ich ja auch noch nicht so tief im Thema ‘Gezeitenabhängigkeit’.

Wir hatten am Sonntag allerdings die Wahl, das perfekte Wetter für so ein Vorhaben zu nutzen und daher halt um 21.30 Uhr mit ablaufendem Wasser Borkum zu verlassen oder gute fünf Tage in diesem unsympathischen Umfeld bei grauem Wetter abzuwarten, um dann zwar eine Tagestide, aber evtl. schlechtere Windverhältnisse zu erwischen. Schnell waren wir uns einig und planten alle Details bis Vlieland, dem erstmöglichen Hafen in Holland, der nun mal ganze 76 Seemeilen entfernt lag. Heißes Wasser in die Thermoskanne, Stirnlampe mit Rotlicht bereit gelegt und alle Lichterquellen auf schwache Nachtbeleuchtung umgestellt. Ach ja, der Backautomat durfte noch ein leckeres Brot backen, wodurch die ersten Geruchssinne angenehm aktiviert wurden… 🙂 .

Auf Knopfdruck lichtete sich um 21.30 Uhr die Wolkendecke und schickte goldenes Abendlicht über Borkums Hafen. Was für ein Abschiedsgeschenk!

Gegen den Wind motorten wir 1,5 Stunden raus auf die Nordsee und hatten Zeit, uns an das einsetzende Dunkel und die Lichterspiele aus blinkenden Fahrwasser- und Untiefentonnen zu gewöhnen. Unser neuer Freund, das Radar, gab uns schnell wieder ein sicheres Gefühl.  Die Aufregung blieb natürlich noch, aber, sobald wir auf Westkurs gehen konnten, setzten wir die Segel. Eine großartige Abwechslung für den Hör-Sinn: das Motorbrummen erstarb – leichtes Plätschern setzte ein! Ein Genuss! CARLOTTA zog uns durch die kleine Nordseewelle; erst noch etwas zögerlich mit einem Reff in Groß und Genua, bald aber, bei konstanten vier Windstärken, unter Vollzeug. Es hörte sich fast so an, als ob uns CARLOTTA zuriefe: “entspannt euch, ich mach das schon” 🙂 .

Im Laufe der Nacht und des weiteren Törns wechselten wir uns mit der Skipper-Verantwortung ab, je nachdem, wer wacher war, und somit ohne feste zwei- oder drei-Stunden-Regelung. Wir verabredeten auch klar, dass jeder den anderen bei Unsicherheiten weckt. Außerdem gilt bei uns schon immer die Regel, dass keiner das Cockpit verlässt, wenn der andere unter Deck ist. Gegen zufallende Augen beim Skipper hatten wir einen Impulsgeber angeschafft. Dieses kleine Teil wird mit einem Clip am Jackenkragen befestigt und hat somit direkten Kontakt zum Hals. Nach Aktivierung vibriert es alle 15 Minuten recht stark, hält einen wach oder weckt nachhaltig auf – nicht aber den zwei Meter entfernt Schlafenden.

So richtig schwarz wurde es die ganze Nacht nicht, vielmehr sorgte der Sternenhimmel für einen silbrigen Glanz auf der Wasseroberfläche. Zu unserer rechten Seite, im Norden, schimmerte es durchweg hell – na klar, in Skandinavien würden sie bald Midsommer feiern – , und die großen Pötte boten rechts von uns im Hauptfahrwasser oftmals einen leuchtenden Eyecatcher. Ansonsten waren wir alleine, kein anderes Boot weit und breit und nichts Unklares auf dem Radar.

Gegen vier Uhr schlief der Wind ein, und wir bargen die Segel. Micha huschte in die Koje, und ich beobachtete kurze Zeit später diverse AIS-Signale, die, von der südlichen Inselwelt kommend, ins Wattenmeer rausfuhren. Alle blieben weit von uns entfernt und waren nicht mal auf dem Radar zu erkennen. Ein Signal behielt ich aber im Blick: dieser „Fischer“ folgte nicht seinen Kumpels, sondern näherte sich seitlich mehr und mehr an und sah wie ein hell erleuchteter, aktiver Trawler aus. Die Ausleger blinkten weiß, die Aufbauten in rot – als zweite Möglichkeit assoziierte ich noch einen glitzernden, überdimensionalen Weihnachtsbaum 😯 – , und auch auf dem Radar wurde dieser Kerl immer größer und größer.

Ehe das Ungeheuer uns fressen konnte, klärte sich alles auf: eine rot-weiße-Einfahrttonne mit Radar-Antwortbake. So eine Bake erzeugt auf unserem Radardisplay einen fetten Balken, allerdings ohne Fischmaul und scharfe Zähne 🙂 .

Micha setzte seine Ruhepause fort, und ich erfreute mich am Sonnenaufgang:

Der Vormittagswind schenkte uns nochmals vier Stunden herrlichstes Segeln, bevor wir dann – bei noch ablaufendem Wasser, also gegen die Strömung – in das breite Fahrwasser zwischen Terschelling und Vlieland abbogen.

Auf Borkum hatten uns abends noch Segler von ihren Coronaregel-Erfahrungen in dieser Gegend berichtet. Eigentlich müssen wir Deutschen dort einen PCR-Test (auch für Geimpfte und nicht älter als 72 Stunden) vorweisen und dürfen uns dann freiwillig in Quarantäne begeben. Im Krankenhaus von Borkum hätten wir den Test machen können; das Ergebnis aber frühestens nach 72 Stunden  – und somit zu spät für die Ankunft in Holland – erhalten. Die Hafenmeister auf Vlieland sollten aber kontroll-entspannt sein. Außerdem hörten wir von einer Ankermöglichkeit direkt in Hafennähe. Als Ankerfans und auch, um uns die Hafengebühr zu sparen, da wir eh nur schlafen wollten, peilten wir bei Niedrigwasser eine drei Meter tiefe Stelle zum Übernachten an. Trockenfallen würden wir hier also nicht.

Mittlerweile war es 14 Uhr, eine perfekte Zeit für einen ausgiebigen Nachhol-Schlaf. Der Anker fiel, und als ich ihn einfahren wollte, rauschte die Kette aus. Geistesgegenwärtig stellte Micha einen Fuß auf das Metall (Schuhgröße 46 hilft ungemein 😀 ), und ich holte einen Schraubenzieher zum Blockieren der Kette. Wir waren hellwach. Micha erinnerte sich, dass er, nach dem Verlängern der Kette im Winterlager, die Kettenbremse nur “handwarm” angezogen hatte. Nach erforderlicher Korrektur, beobachteten wir noch einige Zeit CARLOTTAS Verhalten bei Flut in der Strömung und fielen dann beruhigt in den Nachmittagsschlaf.

Wir lernten in den nächsten Stunden, dass sich der Bug eines Schiffes immer in die Strömung dreht, egal, woher der Wind weht. Im Ergebnis hatten wir morgens um drei Uhr folgende Situation: Bug gegen die Strömung, Wind von hinten, somit auch Welle von hinten, sehr lautes Wellenklatschen ans Heck,  Ende der Nachtruhe, Umzug in die Salonkoje 🙄 .

Am Vormittag setzte sich der blaue Himmel durch, und wir verholten die paar Meter in den Yachthafen von Vlieland.

Unsere Sinne wurde von ganz neuer Seite gepackt: eine ruhige und friedlich anmutende Stimmung lag über den Steganlagen. Es war windstill, und es gab ausreichend freie Plätze für Gastlieger, dazu der Sonnenschein und ein freundlicher (nicht nachfragender 😉 ) Hafenmeister. Das schrie geradezu nach Segelpause und Urlaub. Und auch die Sinne durften sich wieder etwas beruhigen… 😉

 

4. Etmal am 6. und 7. Juni von Borkum nach Vlieland / Holland:
gesamt 76 Seemeilen: 48 segelnd, 28 unter Motor