14 Stunden Wellenreiten

Nachdem wir die erste Stunde auf See bei moderatem Wind mit viel Gähnen und recht kleinen Augen verbracht hatten, gewöhnten wir uns an die zunehmenden Wellen.

Wir wissen ja, wie gut das große Vorsegel uns bei achterlichen Winden zieht und haben daher alle anderen Segel gut verstaut bzw. gar nicht eingeplant.

Es war schon interessant, zu beobachten, wie die Wellen langsam anwuchsen, unter Carlotta hindurch rollten und wir regelmäßig von einer Seite auf die andere geworfen wurden. Noch mehr Training für die Tiefenmuskulatur ist kaum möglich! 🙂 Das alles in den ersten sieben Stunden mit viel Sonnenschein.

Wir segelten am Rande des Tiefdruckgebiets, was mal mit dunklen Wolken näher kam, noch mehr Wind mit sich brachte, aber auch mal vorbeizog, ohne, dass wir die Genua stärker reffen mussten. Die meiste Zeit fuhren wir allerdings mit einem Reff und verkleinerten damit unsere Segelfläche um 1/3. Das Schiff geigt dann weniger in den Wellen, wird aber kaum langsamer. Wir düsten oft mit über sieben Knoten dahin, sahen aber auch erstmals eine 10 (wow, eine ZEHN !!) in der Geschwindigkeitsanzeige. Technisch kann Carlotta das nicht von alleine…aber, sie liebt es, hohe Wellen hinab zu surfen und gibt dann alles. :-). Einen Speedbeweis konnten wir zwischendurch dokumentieren:

Gegen 14 Uhr passierten wir Kolberg an der Küste und hatten uns längst entschieden, dort nicht zu stoppen. Es lief einfach zu gut, und uns erschienen die Nachmittagsstunden im Hafen als verschenkte Zeit. Sorry, Kolberg, aber deinen wohl schönen und modernen Yachthafen heben wir uns für die Rückreise auf.

Damit hatten wir auch eine neue Stufe auf der Leiter unserer längsten Etmale betreten. Denn, der nächste Hafen Darlowo (Rügenwalde) lag weitere 30 Meilen entfernt und bescherte uns damit eine Tagesetappe von 82 Meilen (ca. 150 Km). Übrigens sichteten wir an diesem Tag kein weiteres Segelschiff; irgendwie hatten sich alle anderen wohl für Hafentage entschieden oder starteten deutlich später. Anbetracht dieser Vorhersage war das vielleicht auch verständlich (es gilt, je roter, desto mehr Wind…):

Unter Deck will jeder Schritt gut überlegt und stets mit festem Handgriff verbunden sein. Brot schneiden und alle Utensilien für den Becher Kaffee stabil zu platzieren, gelang uns recht gut. Schwierig wurde es immer dann, wenn wir den Kühlschrank öffnen mussten. Fühlt es sich gerade nach kleineren Wellen an bzw. reicht das Wellental mit Schwung nach links aus, um die Tür zu öffnen UND zu schließen, ohne dass Lebensmittel herausfallen?? Ich sitze dann immer oberhalb der Stufen vor dem Kühlschrank und passe den richtigen Moment ab. An diesem Tag schafften es die Wellen, mich quer durchs Schiff rutschen zu lassen – mal sehen, wie der blaue Fleck am Rücken aussieht 😩 – während das Marmeladenglas in die andere Richtung davon rollte. Letztendlich landete diese leckere Nervennahrung aber auf dem Brot und schenkte uns eine Belohnung für diese Anstrengungen. Unfassbar, wie belebend so eine frische Scheibe selbst gebackenes Brot mit heißem Kaffee an solchen Tagen wirkt.

Nervennahrung hatten wir auch wirklich nötig, denn kurze Zeit später erklang ein lauter Knall, dessen Ursache wir nicht gleich entdeckten. Dann flog allerdings das Stahlfall unseres Großsegels mit samt seinen 12 Metern Länge durch die Luft. Will heißen, düste je nach Wind und Wellenlage von links nach rechts bzw. vorne nach hinten, immer schön um den Mast und/oder unser Vorsegel herum. Sämtliche Horrorszenarien spielen sich augenblicklich vorm inneren Auge ab und endeten mit einem hoffnungslos verhedderten Fall im unerreichbaren oberen Teil der Genua, die sich dann nicht mehr einrollen ließe. Wir holten tief Luft, Micha legte den Sicherungsgurt an und befestigte sich am Mast. Wir konnten die Genua noch dichter holen, so dass das fliegende Stahlseil seinen Weg dicht an Micha vorbei nehmen musste – und dem Zugriff nicht entging! Puh! Geschafft! Wie durch ein Wunder, waren die Wellenberge gerade kleiner und die Böen weniger stark. Da hatten wir noch mal Glück gehabt.

Was war also passiert? Wenn unser Großsegel im Baum eingerollt ist, klinken wir das Stahlfall am Segeltop aus und haken es am Baumende in ein kleines Bändsel ein. Das erspart uns und jeglichen Liegeplatznachbarn das unausweichliche Schlagen des Stahlseils gegen den Mast. Rückblickend dürfte dies Bändsel schon zig Jahre alt sein und hätte von uns schon im letzten Jahr als mögliche Risikoquelle erkannt werden müssen. Nun ist das Fall dort eigentlich keiner großen Spannung ausgesetzt. Ganz anders an diesem Tag. Durch die wilde Wellenschaukelei bewegte sich der Baum stetig hin und her, und der stundenlange Druck auf das Tütelband vollendete die Materialermüdung. Nach fest kommt ab… 😯

Zukünftig klinken wir das Fall bei derartigen Segelplänen und Wetterbedingungen seitlich in die Reling ein, auch, wenn es uns dann den Durchgang verengt. Und für alle ruhigen Hafentage nutzen wir zum Befestigen ein neues, stabiles Bändsel am Baum. Gefahr gebannt!

Das Tiefdruckgebiet hatte während dieser Aktion ja eine kleine Atempause eingelegt und rollte nun mit dunklen Wolken, Regentropfen und den avisierten acht Windstärken heran. Wir refften die Genua um ein weiteres Drittel.

Ich finde es äußerst Respekt einflössend, wie anders sich der Wind ab acht Windstärken anhört, die Wasseroberfläche krisselig wird und die Wellen am Kamm nicht einfach nur brechen, sondern das Wasser anfängt zu fliegen. Als wir die Zahl 40 in unserer Windanzeige gelesen haben (Windstärke neun beginnt bei 41 Knoten…), dachte ich mir, ok, jetzt kriege ich meinen ersten echten Sturm – und vertraute zutiefst auf unser Schiff. Diese Böen waren dann aber nach 15 Minuten wieder vorbei, und es hellte wieder auf.

30 Minuten vorm Einlaufen, kontaktierten wir per Funk die Hafenbehörden. Das ist in Polen zwar keine Pflicht, gehört sich hier aber so und machte uns auch Spaß: “Darlowo Port Control for Sailingvessel Carlotta” – “Yes, Carlotta, Darlowo port” – “Sailingvessel Carlotta ist 30 minutes west for port entry” – “Ok, Carlotta, free entry”. Fein, damit war das schon mal klar.

Als wir das Segel vor der Hafeneinfahrt einholten, schien die Sonne fast wieder, aber der starke Wind blies beständig weiter.
Die Wellenhöhe blieb somit auch unverändert. Die Brecher schlugen gegen die rechte Mole und gischteten im hohen Bogen in das Hafenbecken.

Nachdem wir schaukelnd die schmale Hafeneinfahrt passiert hatten, sahen wir links auf der Promenade viele Menschen stehen, die ihre Daumen hoben 👍 und in unsere Richtung applaudierten.

Die meinten tatsächlich uns, winkten uns zu und klatschten fröhlich weiter 🤗. Wahrscheinlich stand unser Wellenkampf schon längere Zeit unter Beobachtung. Wow, was für ein Willkommen nach diesem langen Tag. Das tat gut.

Um 20.30 Uhr lag Carlotta ruhig und fest vertaut am Steg, und wir hingen vollkommen fertig auf dem Sofa. Beide verspürten wir ein inneres Vibrieren, die Muskeln arbeiteten einfach weiter, und wir standen wie unter Strom. Eine lange, heiße Dusche später – und für mich ein genußvolles Glas Rotwein – kamen wir zur Ruhe und schliefen in dieser Nacht tief und fest!

30. Juni von Svinemünde nach Darlowo
8. Etmal mit 82 Seemeilen, davon nur vier unter Motor (super für unsere Segelmeilen-Bilanz!!)