Grandios – wir sind in Litauen!

Der Wecker hatte sich zu dieser unchristlichen Stunde ganze vier Minuten abgemüht, bevor er uns um 1.34 Uhr aus dem Tiefschlaf holte. Nee, das ist ganz und gar nicht unsere Zeit, um gleich hellwach zu sein.

Der Hafen von Wladyslawowo war erwartungsgemäß gut beleuchtet, auch, wenn keiner der Fischer Anstalten machte, loszufahren. Da wir alles gut vorbereitet hatten, liefen wir zügig aus und hätten gerne gleich hinter der Mole unsere Segel gehisst. Daran war aber überhaupt nicht zu denken.

Wir lieben ja diesen Moment, wenn alle Segel stehen, der Motor verstummt und das Rauschen ertönt, sobald das Schiff Fahrt aufnimmt. Das einzige was hier morgens um 2.30 Uhr zu hören war, erschallte aus einem großen Partyschiff und verunglimpfte uns noch eine komplette Stunde die Nachtfahrt aus Polen. Der Lärm – anders kann ich dieses UMPFUMPFUMPF nicht nennen 😠 –  hatte Rückenwind, genau wie wir und war erst ca. acht Meilen später nicht mehr zu hören. Dann erst rollten wir die Genua aus.

Das erste Morgenlicht machte sich im Osten breit – und unsere Augenlider wurden immer schwerer und schwerer. Wirklich aufregend und somit wachmachend verlief die Fahrt auch nicht. Keine anderen Segelschiffe, keine plötzlichen Patrouillenboote und auch keine Tonnen, weder in Sicht noch auf dem Navisystem noch im Radar. Stattdessen kam der versprochene Wind und mit ihm die gewohnten, aber nicht beliebten Wellen von hinten. Leider drehte der Wind nicht weiter auf West, so dass wir wirklich die komplette Strecke nur mit Genua vorm Wind fuhren. Wie anstrengend das ist, wisst Ihr ja aus unserem Bericht vom Törn nach Darlowo.

Morgens bzw. am Vormittag haben wir uns mit der “Verantwortung” abgewechselt, der andere hat sich im Salon oder im Cockpit verkeilt und versucht, etwas zu schlafen. In meiner Zeit habe ich mir sicherheitshalber den Timer auf “alle 15 Minuten” gestellt, da mir immer wieder die Augen zufielen… 😔😞 Viel Kaffee hilft da auch nicht wirklich… 😉

Uns war klar, dass eine Regenfront hinter uns herkam, und wir hofften, noch vorzeitig in Klaipeda einzutreffen.

Das war aber ein Satz mit X, obwohl wir zwei Stunden vor Hafeneinfahrt den Motor anstellten und sehr zügig weiter fuhren. Kurz vor der Küste haben wir uns per Funk bei Klaipeda Traffic angemeldet und wurden gleich danach von der Küstenwache persönlich angefunkt. Da hatten wir bereits mit dem Hafenmeister telefoniert, der uns einen Liegeplatz im Kastellhafen reservierte. Die Coast Guard hat das nicht wirklich interessiert. Kaum fuhren wir den Industriehafen entlang – fühlte sich an wie im Hamburger Hafen 🙂 – näherte sich ein Speedboot, kam längsseits, ein Uniformierter trat heraus und bat uns, dem Boot zu folgen. Na, wer kann da schon Nein sagen…?! 🤔 Brav folgten wir dem Blaulicht (!!).

Mittlerweile goss es in Strömen, es wurde dunkel, der Wind beschleunigte auf sechs Windstärken, und wir durften an einer (verhassten) Autoreifen-Kaimauer festmachen, um unsere Personalausweise und unseren Internationalen Bootsschein an einen Uniformierten zu übergeben, der grad einem schwarzen SUV entstieg. Der Hafenmeister kam auch dazu und wies uns daraufhin, dass die Drehbrücke, also die Zufahrt in den Sportboothafen, in wenigen Minuten öffnen würde. Na fein, sag das mal einem Polizisten, der mit deinen Papieren verschwunden ist…

Tatsächlich dauerte es doch nur fünf Minuten, und wir waren “frei”. Damit der Stresslevel auch schön hoch blieb, nahm der Wind weiter zu, der Danè River erwies sich als recht eng, ein weiteres Segelboot kam quer, Strömung störte auch noch – kurzum, wir hatten echt zu tun, um unser Schiff unbeschädigt auf Spur zu halten und dann zum Liegeplatz zu fahren. Netterweise rannte der Hafenmeister neben uns her und half beim Anlegen. Platz 53 lag fast am Ende des Burggrabens – der Kastellhafen befindet sich im ehemaligen Festungsgraben – und, damit wir Strom bekamen, lief ich mit ihm den ganzen Weg zurück zum Hafenbüro, bezahlte die erste Nacht und die Stromkarte, befestigte noch unsere Anti-Plätschermatte am Heck – müssen es denn jetzt noch sieben Windstärken werden????? – und kam vor Nässe triefend wieder an Bord.

Kurze Zeit später fielen wir in unsere Koje und ich ins Koma. 🥴 Es war 23 Uhr.

Vom Happyend waren wir weit entfernt, da wir um drei Uhr hellwach im Bett saßen. Die Alarmanlage des Nachbarbootes beschallte den Hafen und uns im Besonderen. Wir konnten wunderbar  beobachten, was dann passierte, nämlich: NICHTS. Keiner kam, niemand reagierte, und der Lärm verstummte nach zwei Minuten. Und wir fielen wieder in den Schlaf.

Logischerweise hatten wir uns für den Folgetag nichts vorgenommen. Da aber die Sonne schien und wir erstaunlich fit waren, schauten wir uns die Feierlichkeiten zum Eigenstaatlichkeitstag in der alten Festung an. Wir lernten, dass Litauen am 6. Juli an die Staatsgründung und Königskrönung von 1253 erinnert.  König Mindaugas war der erste und einzige König Litauens und regierte vom Sommer 1253 bis zu seiner Ermordung im Herbst 1263.

Wir taperten weiter durch die Stadt, die im Zweiten Weltkrieg zu zwei Dritteln zerstört und erst danach von Memel in Klaipeda umbenannt wurde (was dem wahren, litauischen Namen entspricht). Bis 1920 war Memel die nordöstlichste Stadt Deutschlands. Das Herz der Altstadt schlägt auf dem Theaterplatz, der von der bronzenen Figur “Ännchen von Tharau”, dem Wahrzeichen der Stadt, am Simon-Dach-Brunnen dominiert wird. Jeder kann für sich entscheiden, ob er diese oder eine ganz andere Sehenswürdigkeit (😉) auf dem folgenden Foto entdeckt.

Weiter ging es durch die (eine) leere Shoppingstraße, vorbei am geschlossenen Touri-Büro bis zu dieser eindrucksvollen  Modellstadt, die wir in einer großen Schaukastenanlage bewundern konnten. Sehr detailgetreu und unsagbar liebevoll wird das Leben der Stadtbewohner zwischen 1535 und 1650 dargestellt.

Hinter dem nächsten Wall erblickten wir wieder den Fluß Danè, an dessen Promenade ein historisches Segelschiff als Restaurant festgemacht hat.

Dieser Teil der Stadt beherbergt diverse Cafés und Kneipen – wie gerne wären wir abends in die Jazz-/Blueskneipe gegangen… 🙁🙁 – und zieht sich am Fluß entlang wieder bis zur alten Festung. Bei unserer Rückkehr kamen wir zeitlich genau passend, um die beeindruckend alte Drehbrücke, der wir ja schon nachts begegnet waren, in Aktion zu erleben. Sie gehört zur historischen Burg, stammt aus 1772 und ist die einzige ihrer Art im Baltikum. Täglich zur vollen Stunde kreiseln zwei Männer die Drehstangen und geben den Wassergraben für 15 Minuten den Sportbooten zur Durchfahrt frei.

Noch eine schöne Tradition wird im Kastellhafen gelebt, die wir bei unserem Liegeplatzwechsel entdeckten. Wir hatten die Chance auf der anderen Grabenseite festzumachen, so dass wir die nächsten drei Nächte äußerst windgeschützt gen Westen lagen. Und genau dort stand ein großer Fahnenmast, an dem, neben der litauischen, auch eine polnische und eben eine deutsche Flagge wehte. Als das polnische Gastboot am nächsten Tag ablegte, verschwand auch diese Landesflagge.

Am Abend beschäftigten wir uns mit der Planung für den nächsten Tag: dem Ausflug auf die Kurische Nehrung, also dem schmalen Landstreifen zwischen Ostsee und Haff. Dieser Naturdamm besteht aus reinem Sand und erstreckt sich über rund 100 km bis zum Ort Nida, der vielen durch das Sommerhaus des Schriftstellers Thomas Mann bekannt sein dürfte. Gleich dahinter liegt die russische Grenze. (Die Legende um die Nehrung ist hier gut beschrieben und es lohnt sich, nachzulesen.)

Wir könnten auf eigenem Kiel dorthin gelangen, was aus vielen Gründen für uns aber keinen Sinn machte. Es gibt Schnellboote, aber auch Busse, die vom gegenüberliegenden Ufer starten. Oder eben die Möglichkeit, ein Auto zu mieten und damit entlang der Strecke sehr flexibel zu sein. Schnell fanden wir diverse Vermieter im Internet, suchten uns den naheliegendsten aus und spazierten morgens direkt dorthin. Tja, und dann kam die Überraschung. Oder besser gesagt, unsere Naivität wurde bestraft… 😟 Wie sind wir bloß auf die Idee gekommen, dass dort ein echtes Büro sein würde oder gar irgendeiner der sechs Autovermieter an diesem Tag in der drittgrößten Stadt Litauens einen Wagen für uns haben könnte?? Nichts geht ohne Vorbestellung!

Wir marschierten wieder zurück und gingen direkt in die Tourist Information. Und dann wurde uns klar, dass das Universum es gut mit uns gemeint hat. Der sehr gut Deutsch sprechende Mitarbeiter machte uns umgehend klar, dass wir unseren Plan so umsetzen könnten, aber halt zusätzlich mit hohen Fähr- und Naturschutzparkgebühren zu rechnen hätten (kurze Addition im Kopf: wir kämen auf mindestens 100 €…). Oder – wenn wir schlau wären 🤓 – die Personenfähre und den öffentlichen Bus nähmen. Beides für fünf Euro pro Person. Da gab es natürlich kein Überlegen mehr.

Kurze Zeit später setzten wir mit der Fähre nach Smyltinè über und stiegen in den wartenden Bus, der uns 30 Minuten später in Juodkrantè rausließ. (An dieser Stelle ein paar Worte zum Umgang mit Covid-19 in Litauen: es scheint kaum existent zu sein. Masken tragen höchstens Kellner in Restaurants, sonst niemand. Vielleicht zu verstehen, bei der sehr geringen Infektionsrate im Land. Wir hielten es aber weiter mit möglichst viel Abstand, was sich leider nur im Bus nicht umsetzen ließ).
Im ältesten Fischerort der Nehrung ließen wir uns einen lokalen Zander schmecken und fuhren dann weiter nach Nida, der ehemaligen Künstlerkolonie Nidden. Nida ist mittlerweile touristisch sehr erschlossen, war aber nicht überfüllt. Gemälde und Skulpturen sind an vielen Stellen zu finden, und mir haben es besonders die kräftig blau und rot angestrichenen Häuser

sowie die geschnitzten Wimpel der Kurenfischer angetan. Im 19. Jahrhundert diente diese Vorschrift der Identifizierung fremder und ungenehmigter Fischer, da Einheimische wesentliche Hinweise auf ihre Ortschaft einarbeiteten.

Glück hatten wir auch mit der hilfsbereiten Dame im Touribüro, die uns den Tip mit der lokalen Bäckerei gab. Den Laden hätten wir weder gefunden, noch als Konditorei erkannt. Außerdem empfahl sie uns ein Tuk-Tuk zu nehmen, wenn wir die Parnidden-Düne nicht zu Fuß erklimmen wollten.

Mit einer Höhe von 52 Metern gehört sie zu den höchsten Dünen Europas und verschaffte uns beeindruckende Bilder dieser Landschaft und Blicke auf Haff und Ostsee.

Per Tuk-Tuk ließen wir uns dann ans andere Dorfende, zum Thomas-Mann-Haus fahren. Wir konnten sofort nachvollziehen, warum der Schriftsteller sein Sommerhaus an dieser Stelle auf einer Erhöhung errichten ließ. Die Sicht über die Weiten der Nehrung ist hervorragend, Ruhe erfasst einen und schafft Raum für neue Ideen. Und natürlich informiert das Kulturzentrum ausführlich über sein Leben, sein Schaffen und seine Haltung gegen die Nazis. Ein beeindruckender Mann.

Am nächsten Tag gingen wir einer unserer Lieblingsbeschäftigungen auf Reisen nach: wir erkundeten den Markt in Klaipeda. An sechs Tagen in der Woche finden sich hier viele Stände mit Obst und Gemüse, Honig und Blumensträußen. Oft nur ein kleiner Bereich bzw. Stand mit einer überschaubaren Auswahl an Produkten. Wahrscheinlich genau das, was auf dem eigenen Land wächst und gedeiht. Uns haben es u.a. die Himbeeren einer älteren Marktfrau angetan, die für eine große Schale gerade mal drei Euro verlangte! Boa, waren die lecker 😋. Genauso wie die Pfifferlinge dieses Pilzverkäufers, die uns sofort für unser Mittagessen inspirierten.

Wir deckten uns mit zig Leckereien ein, vollendeten weitere Einkäufe im kleinen Supermarkt und sind nun wieder gut ausgestattet für die nächsten Törns nach Norden.

5. Juli von Wladyslawowo nach Klaipeda
11. Etmal: 108 Meilen: 63 segelnd und 45 unter Motor