Auf historischer Spurensuche in Tallinn

Wir hatten uns Montagabend auf den Wetterwechsel vorbereitet und ein SCHLANKES SCHIFF hergestellt: das Binimi in seine Persenning eingewickelt, das Schlauchboot entlüftet und samt Tasche in der Backskiste verstaut sowie den Gennaker in seine Segeltasche im Vorschiff unter Deck verbannt. So schufen wir “klar Schiff” für die anstehenden Wetterbedingungen.

Dienstagmorgen begrüßte uns dann auch abgekühlt und mit blau-grau-fleckigem Himmel. Schon vor neun Uhr legten wir ab, obwohl wir die fetten Schauer ankommen sahen. Wir gingen davon aus, dass uns diese eh am Tag begleiten und halt mal erwischen würden. Dann ducken wir uns eben und machen uns ganz klein unter der Sprayhood. 30 Minuten später war es dann auch soweit, aber dies blieb die einzige Dusche, die wir auf dem Törn nach Tallinn abbekamen. Um uns herum sah es aber teils gewaltig und beeindruckend aus.

Der Wind spielte den ganzen Tag mit, brauste uns mit fünf bis sechs Windstärken in die Segel und ließ uns Tallinns Bucht nach 8,5 Stunden erreichen. Der erste Blick fiel auf vier große, leere Frachter, die hier auf Reede liegen. Ob die wohl immer hier parken oder coronabedingt arbeitslos rumliegen??? Dann wurden wir augenscheinlich als Ziel für einen Kitesurfer ausgewählt. Einfach irre, wie der mit Kite und Wind spielte, durch die Luft flog und einen Bogen um uns herum surfte. Sehr cool. (Da die Aufnahmen im Video viel beeindruckender sind, fehlen hier einfach mal die Bilder).

Wir hatten uns bewusst für den ganz östlichen Yachthafen in Tallinn entschieden. Die bereits mehrfach erwähnte Bootsmesse im Januar hatte auch hier wieder ihre Finger im Spiel. Einer der Hafenmeister vom Kalevi Jahtklubi hatte solche Werbung für seine Marina gemacht, dass wir dem Aufruf gerne folgten. Da die Liegeplätze noch hinter dem Olympiahafen liegen, vermuteten wir zuerst eine eher „ruhige Ecke“ vorzufinden; außerdem schienen ausreichend Gästeplätze vorhanden zu sein.

Leider irrten wir in zweierlei Hinsicht. Der starke Wind blies so deutlich in dieses Hafenbecken, dass wir im engeren hinteren Bereich aufgrund der Opti-Schule und SUPs etwas in Bedrängnis kamen. Die Kids in den Optis kurvten recht gut um uns herum, aber die Stand-up-Paddler konnten unsere Manövrierherausforderungen eher gar nicht einschätzen. Und dann war da noch KEIN freier Platz. Großartig. Eng, böiger Starkwind und keine helfende Hand in Sicht. Und gerade, als wir uns erstmal temporär an einen rotmarkierten Platz legen wollten, winkte uns ein Hafenmeister zu einem versteckten bzw. für uns nicht sichtbaren Gästeplatz. Dem letzten in einer Gasse, in die wir sonst niemals reingefahren wären. Fein, endlich angekommen!

Nach einem Rundumblick wurde uns klar, dass der Hafen durch Regattayachten gefüllt war, und auch an Land fanden sich aufgebockte Regattaschiffe und Partyzelte.

Abends entdeckten wir das nette Restaurant des Yachtklubs und entspannten bei Sonnenschein und lecker gegrilltem Fisch.

Mittwoch ließen wir ruhig angehen, wohl wissend, dass wir mindestens drei Nächte hier bleiben würden und somit ausreichend Zeit für Sightseeing bliebe. Erstmals auf unserer Reise lagen auch (gleich) zwei Sportboot-Ausrüstungsshops im Hafen, so dass wir die zwei Punkte auf unserer Shoppingliste abhaken konnten: ein Schnappschäkel für unsere Großschot (beim bisherigen zeichneten sich Reibungsverluste im Edelstahl ab… 😳) und eine schwimmfähige Winschkurbel samt Halter für den Mast. Letztes fällt unter das Motto „Arbeitseffizienz durch Weg- und Materialeinsparung“ 😉.

Nach erfolgreicher Montage hatte ich viel Zeit, um auf Spurensuche meiner Familie zu gehen. Mein Opa war in den dreißiger Jahren Werkleiter der damaligen Hauni-Fabrik in Reval (Tallinn), und mein Vater und seine Schwester sind hier geboren. Allerdings gibt es nur noch (schöne) alte Fotos aus der Zeit sowie die frühere Adresse, die man leider heute in GoogleMaps nicht findet. Auch zusätzliche Internetrecherchen hatten nicht weitergeholfen, und so schrieb ich das lokale Touristcenter per Mail an und bat um Hilfe. Keine Stunde später erhielt ich von einer Thea eine nette Antwort mit dem aktuellen Straßennamen und einem passenden Link. Saustark! Super nett!

Dann fuhren wir aber erstmal mit dem ÖPNV in die Altstadt. Eine Dreitageskarte würde es uns nun ermöglichen, 72 Stunden lang kreuz und quer durch die Stadt zu fahren – übrigens ohne Maskenpflicht bzw. jeglichem Anschein von Covid-19. Die Pandemie ist hier bis auf einige Abstandshinweise nicht existent! Wir waren uns nicht sicher, ob wir uns darüber freuen oder eher besorgt sein sollten…

Wenn man Reiseführer zu Tallinn studiert, erschlägt einen die schiere Menge an potentiellen Zielen. Immerhin hat der mittelalterliche Stadtkern die Jahrhunderte fast unbeschadet überstanden und zählt zum UNESCO-Welterbe. Wir haben uns an dem Empfehlungen der hervorragend übersetzten Seite www.visittallinn.ee orientiert und konzentrierten uns auf die historischen Baudenkmäler rund um den Rathausplatz

Eine der ältesten Apotheken der Welt – seit 1422

und den Domberg mit seinen verschlungenen Kopfsteinpflastergassen.

Die Alexander-Newski-Kathedrale ist die größte Kuppelkirche Tallinns und hat uns in ihrer Pracht einfach umgeworfen.

So schön der blaue Himmel immer wieder für farbprächtigen Hintergrund sorgte, so stürmisch war es an diesem Tag auch. Die Wetterdienste hatten noch einen oben drauf gelegt und für abends bis zu acht Beaufort vorhergesagt. Wir traten daher den Rückweg zum Hafen an – und kamen durch Zufall am Touristenbüro vorbei. Schwups hinein geschaut und schon standen wir “der” Thea gegenüber. Auch sie hat sich sehr gefreut, uns kennen zu lernen und gab uns noch zwei gute Tipps für die nächsten Tage.

Bei Ankunft im Hafen hingen wir tatsächlich schon so straff in den Leinen, dass wir, wie einige Bootsnachbarn, alles noch fester zurrten und einen zusätzlichen Festmacher ausbrachten. Die Windgeräusche im Hafen überschlugen sich, es heulte in den Wanten, Fallen schlugen gegen Masten, und alles schaukelte hin und her. Einfach eine Nacht, um sich tief im Bootsinneren zu verkriechen – trotz später Orangetöne am Himmel.

Donnerstag führte uns die Straßenbahn zum ältesten Fischereihafen Tallinns, dem Stadtteil Kalamaja, was übersetzt “Fischerhaus” bedeutet. Im Mittelalter wohnten und arbeiteten die Fischer hier, später wurde die Gegend industrialisiert und man baute weitere Holzhäuser für die Arbeitskräfte und deren Familien.

Diese alten und bunten Gebäude mit teils farbig abgesetzten Türen versprühen “Bohemian Charme” und Wohlfühlatmosphäre. Wir schlenderten gerne durch diesen Stadtteil, gab es hier doch wenig Touristen oder gar Souvenierläden. Einfach ein nettes Wohnviertel.

Einige der finnischen Nachbarboot-Crews deckten sich Donnerstag noch mit “hilfreichen Lebensmitteln” ein, die in Finnland deutlich teuer sind. Vor einer Yacht türmten sich die Weinkartons und -kisten und, auf unseren amüsierten Blick hin, hieß es, dass es sich um den Jahresvorrat für zuhause handeln würde. Na klar doch 🤫🤐 (Ich habe dann aber auch schnell noch meine Weinvorräte überprüft 😉). Auf jeden Fall wollten die alle Freitag früh los, was wir als wenig sinnvoll ansahen.

Die weichere und windarme Luft am Morgen konnte einen schon zum Ablegen animieren. Wir vertrauten aber auf die Wetterfrösche, die für mittags erneute 7-8 bft mitten auf dem Finnischen Golf vorhersagten. Und, wer keine Eile hat, muss sich auch nicht in solche Wellen und Winde begeben. Und das gab uns die Gelegenheit, noch ein paar schöne alte Steine zu bewundern, aber auch unseren Jahrestag  – ja, der 24. Juli jährt sich um 10. Mal 🥰🥰 – gebührend zu feiern.

Gleich über den Fluß und die Straße hinweg befindet sich das PIRITA KLOOSTER aus dem Jahr 1417.

Selbst die Ruinen lassen das Areal äußerst imposant erscheinen – und werden heutzutage übrigens regelmäßig für Opern- oder Rockkonzerte genutzt! Das hätten wir wirklich gerne erlebt.

Nach einem ausgiebigen Lunch im Restaurant des Yachtklubs – hmm, was für eine Crème Brulée… 😋 – fiel das Abendessen natürlich sparsamer aus.

Da sich unsere Zeit in Tallinn dem Ende neigte, dürfen folgende drei Informationen nicht fehlen:

  1. wir konnten das Haus meiner Großeltern nicht mehr vorfinden, da die komplette Straßenbebauung neu und gewerblich ist. Immerhin hat die neue Firma unter der Adresse der damaligen Fabrik aus Traditionsgründen den Namen LAFERME behalten – auch schön.
  2. den Yachtklub Kalev können wir anderen Gastliegern nicht empfehlen. Die Steganlagen sind zwar gut und das Segelschulleben scheint sehr intensiv zu sein. Aber, die veralteten, kleinen sanitären Anlagen befinden sich in sehr heruntergekommener, zweiter Reihe, und bei vorherrschenden Westwinden liegt man einfach zu unruhig.
  3. Tallinn ist eine Reise wert!! Und Estland sowieso.

21. Juli von Dirhami nach Tallinn
19. Etmal: 47 Seemeilen – 38 unter Segel und nur 9 mit Motor